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Der Tanz

Von Christian Wingrove-Rogers



Ein junger Mann saß auf einer grasbewachsenen Anhöhe am Rande eines Kiesstrandes, über den das Wasser sanft hinweg plätscherte. Hier ergoss sich ein Fluss beständig ins Meer, und er sah zu, wie die Wellen tanzten, wenn eine auf die andere traf. Wenn die Flut kam, würde auch diese, wie jede andere Flussmündung, bald ein Teil des Meeres sein.

Manchmal schaute er stromaufwärts in Richtung der Stadt, in die Richtung, von der er wusste, dass sie kommen würde. Er wusste, dass sie immer an diesen Ort kam, einen einsamen Fleck, der vor den Augen Anderer verborgen war, wenn das Meer kam. Sie und die Flut schienen wie Liebende, die ihre Begegnungen nach ihrem gemeinsamen geheimen Wissen abstimmten. Sein Herz pochte in seiner Brust, denn er war verliebt, und er plante, es ihr heute zu sagen.

Sie kam, und sie war schön. Von weitem sah er, wie anmutig sie war, und er begann zu zweifeln. Bevor sie ihn sehen konnte, schlüpfte er hinter einen nahegelegenen Busch, um ihr Herannahen zu beobachten.

Als sie aus dem Wasser stieg und die nassen Steine überquerte, verlor sie zwar etwas von ihrer Anmut, aber nichts von ihrer Schönheit. Als sie das trockene Land erreichte, drehte sie sich um und blieb eine Weile stehen, um das Zusammentreffen der Gewässer zu beobachten. Dann ließ sie ihren ganzen Körper erbeben, und damit fielen ihre Federn zu Boden. Nicht mehr als ein Flüstern entfernt, zwischen den Blättern des Busches, sah der junge Mann ein wunderschönes Mädchen mit zarter, marmorweißer Haut, beinahe durchscheinend in der fahlen Sonne. Sie begann in den Wind zu singen. Er war außerstande, die Worte zu verstehen, aber er konnte ihre Poesie erkennen. Dann drehte sie sich in einem Rhythmus aus einer anderen Welt Im Einklang mit dem Gesang des Flusses und des Meeres, begann sie auf dem grasbewachsenen Weg zu tanzen. Ihr Haar, das so dunkel war wie die Schatten der Berge jenseits der Bucht, breitete sich aus und erhob sich wie Flügel.

Der junge Mann war verzaubert.

Der Moment war gekommen, zu handeln. Die Federn waren in seiner Reichweite. Er konnte, wie er es sich schon so oft vorgestellt hatte, aufspringen und sie in seine Arme schließen. Dann würde sie ihm gehören. Und nur ihm. Doch wieder einmal kamen ihm Zweifel. Er hatte die Geschichten gehört, die Sagen, in denen sie blieben, jene, die Welten überbrücken konnten; nicht aus Liebe, sondern weil ein anderer ihre Mittel zur Rückkehr in Besitz genommen hatte. Wenn er ihre Federn verbarg, konnte sie sich nicht mehr verwandeln, zu ihrer wirklichen Gestalt zurückkehren. Aber er wusste auch, dass es letztlich unmöglich war, über das Schicksal eines anderen zu bestimmen, so wie ein Geheimnis zu haben, das zu schwer zu wahren ist, oder ein Juwel, das zu brilliant ist, um es zu verbergen. Diese Geschichten, die, wie er jetzt wusste, mehr als nur alte Ammenmärchen waren, gingen nie gut aus.

Als er sein Gewicht verlagerte, um sich zu bewegen, knackte ein Zweig unter ihm. Sie hörte auf zu tanzen und drehte sich um. Er stand zwischen ihr und dem Haufen Federn, und sie konnte seine Absicht erkennen. Sie sah auch die Liebe in seinen Augen. Einen Moment lang standen sie so still wie die Berge, die sich hinter der Flussmündung erhoben, und taxierten die Situation.

Sie begann wieder zu tanzen. Dann kam sie zu ihm, nahm seine Hand und führte ihn in ihre Welt. Das Wasser wirbelte um ihre Füße herum, Vögel sangen, und die Berge schimmerten grün in der hellen Sonne. Ihm fielen andere Tänzerinnen auf, die ebenso schön waren ... wie hatte er das nur übersehen können? Was für frohe Gesichter sie alle hatten!

Wie lange sie tanzten, konnte er nicht sagen. In dem Moment, als er ihre Hand nicht mehr spürte, öffnete er die Augen. Die Flut wich zurück. Er sah sie, einen Schwan, der sich vom Ufer entfernte und träumend in die Mitte des Stromes trieb.
Als sie außer Sichtweite war, blickte er nach unten und sah eine einzelne Feder, die er hütete bis zum Tag an dem er starb.



Ruden 03.04.2021
. Copyright Chriistian Wingrove-Rogers 2021