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The Wind

Von Christian Wingrove-Rogers


Eines Nachmittags im frühen Herbst lief der Dichter die Küste entlang bis zu einem abgelegenen Tal, an dessen Ende er ein leerstehendes kleines gemütlich aussehendes Haus entdeckte. Eigentlich hatte er schon länger geplant, aus der Stadt fortzuziehen – als er nun das Haus mit seinem niedrigen reetgedeckten Dach und den einladenden Fenstern sah, war ihm sofort klar, dass er den idealen Platz gefunden hatte, an dem er sein Buch vollenden konnte. Obwohl der Standort ganz in der Nähe des Strandes mit einem unverbauten Blick auf das Meer perfekt schien, hatte es ihm doch der Garten hinter dem Haus am meisten angetan.

Am Zaun hing ein altes verblichenes Schild „Zu verkaufen“, auf dem er die Adresse des zuständigen Maklers fand und ihn unverzüglich in der nahegelegenen Stadt aufsuchte. Schnell waren sie sich einig, und nur eine Woche später zog er bereits in das Haus ein. Der Winter stand vor der Tür.

Der Garten war zwar alt und unansehnlich, er konnte aber bereits den süßen Geruch und die einladenden Bäume, das kleine Paradies wahrnehmen, in das sich der Garten im Frühling verwandeln würde. Eine Oase, in der er schreiben und sich wohlfühlen konnte. Neben einer Vielzahl kleinerer Bäume fand sich in einem Winkel nah an Haus und Zaun auch eine alte, durch den ständigen Wind gebeugte Pappel.

Den Winter über schrieb und las er, und wenn er beidem überdrüssig war, ging er am Meer spazieren und hörte den Wellen am Strand zu. Dann dachte er an seine Kindheit, die er am Meer verbracht hatte. Nachts schlief er mit seinem Rauschen ein, und am Morgen erwachte er durch sein Rufen. Die Stimme des Meeres war seine stärkste und liebste Erinnerung, und es gab nichts Vergleichbares, das ihn so sehr beruhigen oder inspirieren konnte.

Dann war der Frühling da, und die Bäume füllten sich mit Blättern. Die Pappel wuchs besonders dicht – wann immer der Wind durch ihre Zweige rauschte, hielt sie ihm stand, ihre Blätter tanzten dabei wild und unbezähmbar. Wenn er in seinem Bett lag, konnte er nur noch das Brausen der Pappel und nicht mehr sein geliebtes Meer hören und war so auch nicht mehr in der Lage, einzuschlafen.

Selbst bei geschlossenen Fenstern und nur einem kleinen Windhauch übertönte die Pappel alles andere und brachte den Dichter um seinen Schlaf und seine Träume. Sein Ärger wuchs mit jedem Tag, bis er sich entschloss, die Pappel zu entfernen.

Gerade als er die Axt aus seinem Schuppen geholt hatte und sich überlegte, wie er den Baum am besten fällen sollte, bemerkte er eine ältere Frau, die am Zaun stand und die Pappel mit einem ruhigen, aber traurigen Gesichtsausdruck betrachtete.

„Sie erinnert mich an meine Mutter, meine Heimat und meine Kindheit, an mein Leben, bevor ich hierherkam, sagte die ärmlich gekleidete Frau schließlich mit einem Akzent, den er nicht zuordnen konnte.

Der Dichter fragte nach.

„Dort wo ich aufgewachsen bin, in unserem Garten, da gab es einen Baum wie diesen, der mit derselben Stimme antwortete, wenn der Wind ihn rief. Eines Tages überfielen grausame Menschen unser Dorf und zerstörten alles, auch die Pappel. Meine Kindheit war vorbei. Heute lebe ich hier in der Nähe, weit weg von meiner Heimat, in einer Stadt, die mir fremd geblieben ist. Deshalb komme ich sehr oft hierher zu diesem Baum, dessen Stimme mir die Erinnerungen aus meiner Kindheit zurückbringen kann.“

Sie war still geworden und schaute hoch zu den Blättern, durch die der Wind spielte. Der Schriftsteller legte unbemerkt seine Axt zur Seite und wartete darauf, dass sie weitersprechen würde.

Aber sie drehte sich um und lief weiter, den Küstenpfad entlang zur Stadt.

In dieser Nacht ließ er sein Fenster offen, und eine leichte Brise blies durch das Tal. Jetzt hörte er auch die Stimme des Meeres wieder, denn der Baum war verstummt, wohl wissend, dass es eine andere Person gab, die ihm lieber zuhörte.

Und das Meer sprach wieder zu ihm, ganz so, wie der Dichter es aus seiner Kindheit kannte.

Ruden February 2023